Dienstag, 10. Februar 2015
"Blicke im Nacken" - a short story
Die Leute reden über mich. Das weiß ich.

Guck mal, das komische Mädchen ist wieder da. Guck mal, sie hat sich immer noch nicht aufgehängt.

Ja, ich bin noch da, nein, ich habe noch kein Seil gefunden.

Ich kann ihre Gedanken förmlich hinter den abschätzigen Blicken sehen – ätzend, selbst verliebt, mitleidig. Ja, manchmal mitleidig. Im Unterricht spüre ich ihre Blicke in meinem Nacken, in den Pausen höre ich ihr Flüstern und Raunen, es begleitet mich bei jedem Gang durch den Flur.

Ob ich Freunde habe? Wenn ich Freunde wollte, würde ich ‚dieses super-süße Top von H&M‘ tragen, kichern und mit über ‚Lisa mit der Dauerwelle‘ lästern. Doch ich will nichts dergleichen. Das einzige was ich will, ist meine Ruhe zu haben.

Nein, ich habe keine Freunde.

Vor einem Jahr hatte ich welche. Wir waren genauso albern wie die Mädchen, die ich jetzt so verachte, doch ich war glücklich damit. Ich hatte angesagte Klamotten, einen Freund, ein großes Haus mit Vorgarten… Ich hatte Eltern. Heute habe ich nichts mehr. Keine Freunde, keine Eltern, keine Hoffnung. Der Lebenswille hat mich schon vor langer Zeit verlassen. Seit dem Tag, an dem der Polizist mit dem komischen Bart und der schief gebundenen Krawatte mich aus dem Unterricht holte, gleiche ich eher einer Maschine denn eines Lebewesens, wenn ich durch die Flure schlurfe.

Gedanken aus. Vitalfunktionen an. Überleben.

Ich weiß noch genau, wie die Blicke meiner Klassenkameraden mir folgten und mich anstarrten, als ich dem Beamten zu einem Gespräch vor die Tür begleiten musste. Die Blicke folgten mir damals und sie folgen mir noch heute. Meinen einzigen Freunden gleich sind sie immer da, wohin ich auch gehe. Als hätte ich sie gegen meine alten eingetauscht, gehen sie nun Hand in Hand mit dem Schmerz, der mich seit jenem Tag begleitet. Es ist, als wäre ich damals ebenfalls gestorben – hätte ebenfalls in dem Auto gesessen, das mit meinen Eltern in die Leitplanke fuhr, hätte an diesem Tag ebenfalls mein Leben verloren. Denn genauso ist es; mein Leben wurde mir geraubt, und übrig blieb nur eine leere Hülle, die Tag für Tag aufsteht und durch die Schule streift, und der immer noch die Blicke folgen.

... comment

...bereits 395 x gelesen